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Schwerer Unfall in Phase I-Studie

Phase I-Studie in Frankreich abgebrochen

Eine klinische Prüfung der Phase I mit dem Wirkstoff BIA 10-2474 des portugiesischen Pharmaunternehmens Bial musste am 11. Januar 2016 nach schweren neurologischen Erkrankungen einiger Prüfungsteilnehmer abgebrochen werden. Im Rahmen der bei dem französischen Forschungsinstitut Biotrial in Rennes an 116 Probanden durchgeführten Studie kam es bei fünf der 90 Probanden, die BIA 10-2474 erhalten hatten, zu so schweren Schäden, dass sie in die Universitätsklinik von Rennes eingewiesen werden mussten. Einer der Betroffenen verstarb dort am 17.1.2016. Die vier anderen befinden sich inzwischen auf dem Weg der Besserung und konnten entweder bereits entlassen oder in heimatnähere Krankenhäuser überführt werden. Es ist noch nicht klar, ob sie bleibende Schäden davontragen werden.

Gemäß einer Pressemitteilung der französischen Gesundheitsministerin vom 15.1.2016  handelt es sich bei den fünf betroffenen Probanden offenbar um Teilnehmer eines am 7.1.2016 gestarteten Abschnitts der seit Juli 2015 laufenden Studie, in dem erstmals multiple Dosen des Wirkstoffs angewandt wurden. (Später wurde präzisiert, dass es sich um die 5. Kohorte des Multiple-Dosen-Abschnitts handelte, in der die Probanden ab dem 6.1. wiederholt Einzeldosen von 50mg einnahmen - es war geplant, noch eine 6. Kohorte mit 100mg folgen zu lassen.). Die ersten Symptome traten am 10.1.2016 auf. Ein sechster Proband der selben Behandlungsgruppe zeigte keine Symptome, wurde aber zur Sicherheit vorübergehend ebenfalls in der Uniklinik beobachtet.

BIA 10-2474 ist eine Substanz aus der Klasse der FAAH-Inhibitoren, die durch Hemmung der Fettsäureamid-Hydrolase Einfluss auf das Endocannabinoid-System nehmen. BIA 10-2474 wird für den Einsatz bei neurodegenerativen Erkrankungen erforscht.

Am 14.1.2016 hatte Biotrial in Absprache mit Bial die französische Arzneimittelbehörde ANSM und die zuständige Ethikkommission über die Vorfälle informiert. In einer Pressemitteilung vom 19.1.2016 gab Bial Informationen zu der abgebrochenen Phase I-Studie bekannt, deren Prüfplan zunächst die französische Zeitung Le Figaro am 21.1.2016 auf ihrer Homepage veröffentlichte. Einen Tag später veröffentlichte dann auch die ANSM den Prüfplan. Einer von der ANSM ebenfalls angestrebten Veröffentlichung von IMPD (Investigational Medicinal Product Dossier) und IB (Investigator's Brochure) zu BIA 10-2474 widersprach Bial nach Aussage der Behörde allerdings.

Die ANSM hat inzwischen eine Inspektion der Studie bei Biotrial durchgeführt und ein Committee für die Auswertung aller verfügbaren Daten zu FAAH-Inhibitoren gegründet.
Auch die Pariser Staatsanwaltschaft ermittelt und hat eine Hausdurchsuchung bei Biotrial durchgeführt.

Zunächst lagen noch keine Erkenntnisse dazu vor, wie es zu diesem schlimmen Unfall kommen konnte.
In einer Pressemitteilung vom 5.2.2016 zitierte die französische Gesudheitsministerin allerdings aus einem ersten vorläufigen Untersuchungsbericht, der Biotrial drei Versäumnisse vorwirft:

  • Am Morgen nach der am Abend des 10.1. erfolgten Einweisung des ersten Patienten ins Krankenhaus setzte Biotrial die Therapie der anderen Patienten zunächst fort, ohne sich zuvor erneut nach dem aktuellen Zustand des ersten Patienten erkundigt zu haben.
  • Biotrial informierte die Teilnehmer der Studie vor dieser Fortsetzung der Therapie auch nicht über den Zustand des ersten Patienten, sodass diese keine Möglichkeit hatten, ihre weitere Teilnahme unter Berücksichtigung dieses Vorfalls zu überdenken.
  • Biotrial brach die Studie zwar im Laufe des 11.1. ab, meldete dies den Aufsichtsbehörden aber nicht unverzüglich, sondern erst drei Tage später.

Die von der ANSM mit der wissenschaftlichen Untersuchung des Vorfalls betraute Expertenkommission hat am 7.3.2016 einen Zwischenbericht mit vorläufigen Erkenntnissen veröffentlicht. Demnach scheint es sich bei dem Wirkstoff BIA 10-2474 um einen eher unspezifischen FAAH-Inhibitor zu handeln, der eventuell irreversibel bindet (der Hersteller Bial geht von einer reversiblen Bindung aus). Die bei den erkrankten Probanden aufgetretenen neurologischen Schäden werden als sehr aussergewöhnlich dargestellt, traten in Tierversuchen trotz massiv höherer dort eingesetzer Dosen nicht auf und entsprechen offenbar keiner bekannten Krankheit oder Toxizität. Von den verschiedenen Eklärungsmöglichkeiten, mit denen sich die Expertenkommission beschäftigt, erscheint ihr eine für den menschlichen Organismus spezifische und erst bei Überschreiten eines kritischen Wirkstoffspiegels auftretende off-target Wirkung von BI 10-2474 am wahrscheinlichsten - also eine Wirkung, die nicht unmittelbar mit der FAAH-Hemmung zusammenhängt.

Der finale Untersuchungsbericht der Expertenkommission war für Ende März geplant. In einer Pressemitteilung vom 31.3.2016 (englische Version: siehe Dokument vom 6.4.2016) kündigte die ASNM die baldige Veröffentlichung des Abschlussberichts an, machte aber bereits deutlich, dass die seit dem Zwischenbericht vom 7.3.2016 zusätzlich überprüften Unterlagen kaum neue Erkenntnisse gebracht haben.

Der finale Untersuchungsbericht vom 18.4.2016 liegt inzwischen in englischer Sprache vor. Er bestätigt weitestgehend die schon im Zwischenbericht formulierten Interpretationen. Die Expertenkommission kommt zu dem Schluss, dass die schweren neurologischen Schäden tatsächlich im Zusammenhang mit BIA 10-2474 stehen, aber nicht mit seinem beabsichtigten Wirkmechanismus (der FAAH-Hemmung). Aufgrund der geringen Spezifität von BIA 10-2474 für sein Zielenzym, der Anwendung von relativ hohen Wirkstoffdosen, die die für eine komplette und andauernde FAAH-Hemmung benötigten Konzentrationen deutlich überstiegen, und einer vermuteten langsamen Akkumulation von BIA 10-2474 im Gehirn ist nach aktuellem Erkenntnisstand davon auszugehen, dass BIA 10-2474 seine dramatische Wirkung durch Bindung an Nichtzielstrukturen in Gehirnzellen entfaltete.
Die Expertenkommission sieht den gemäß dem genehmigten Prüfplan der Studie vorgenommen Dosiseskalationsschritt von 20mg auf 50mg als deutlich zu stark an und geht davon aus, dass er maßgeblich zu dem Unfall beigetragen hat.   

Als Reaktion auf die Vorkommnisse in Rennes und die Expertenempfehlungen hat die Europäische Arzneimittelagentur EMA inzwischen ihre Richtlinie für Phase 1-Studien überarbeitet. Die aktualisierte Richtlinie wird am 1. Februar 2018 in Kraft treten.

(Stand: 8.8.2017) 


Unser Mitgefühl gilt den betroffenen Probanden und ihren Angehörigen.